SPD-Chefin Andrea Nahles kritisiert Sanktionen gegen junge Hartz-IV-Bezieher

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Aus: Ausgabe vom 21.08.2018, Seite 5 / Inland

SPD-Chefin kritisiert Sanktionen gegen junge Hartz-IV-Bezieher. Als Ministerin hatte sie diese stets verteidigt

Von Susan Bonath
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Eingebung »von oben«? Andrea Nahles hält Strafen für junge Erwerbslose neuerdings für »kontraproduktiv«
Jahrelange Klüngelei mit den Unionsparteien und der Wirtschaft haben der SPD zugesetzt. Mit Kampfparolen will Partei- und Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles nun offenbar Wähler zurückgewinnen: Die besonders harten Hartz-IV-Sanktionen gegen junge Menschen seien kontraproduktiv und abzuschaffen, lautet ihre neueste Forderung. Nicht nur, dass deren Erfüllung am Koalitionspartner der SPD, den Unionsparteien, sowie an der FDP und der AfD in der Opposition scheitern dürfte. Nahles selbst war von 2013 bis 2017 Bundesarbeitsministerin und hatte als solche die Strafen bis zum kompletten Entzug der Grundsicherung immer vehement verteidigt.
»Leistungskürzungen für jüngere Hartz-IV-Empfänger sollten abgeschafft werden«, sagte Nahles nun am Sonnabend den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Insgesamt sei das Gesetz unter dem Namen des 2007 wegen Untreue verurteilten Ex-VW-Managers Peter Hartz zwar nicht abzulehnen. Aber man müsse »grundlegende Fragen stellen«, wie etwa: »Wie wirken Sanktionen überhaupt bei Jüngeren?« Nahles’ Antwort: »Kontraproduktiv«, denn Betroffene meldeten sich häufig gar nicht mehr beim Jobcenter, um etwa einen Ausbildungsplatz zu suchen.
Aus der SPD gab es unterschiedliche Reaktionen. So sprang unter anderem Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller der Parteichefin bei: »Das Hartz-IV-System hat keine gesellschaftliche Akzeptanz und ist ungerecht«. Bei der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin und SPD-Vizechefin Maria Louise Dreyer stieß das Ansinnen hingegen auf Kritik: »Bei jüngeren Hartz-IV-Empfängern grundsätzlich ganz auf Sanktionen zu verzichten halte ich für zu kurz gesprungen.« Man müsse den 15- bis 24jährigen statt dessen »gute und individuelle Maßnahmen anbieten« und dürfe sie wegen des Gleichheitsgrundsatzes nicht härter als Ältere bestrafen.
Wenn über 25jährige etwa eine Maßnahme abbrechen, ein Jobangebot ausschlagen oder sich nicht wie von der Behörde vorgeschrieben bewerben, werden sie erst zu 30 und dann zu 60 Prozent sanktioniert, bevor sie eine dreimonatige Totalsperre erhalten. Unter 25jährige dürfen Jobcenter hingegen beim ersten »Regelverstoß« die Bezüge komplett streichen, beim zweiten auch die Miete. Jeden Monat sind gut 7.000 Menschen derart vollsanktioniert. Derartiges sei »gerade bei jungen Arbeitslosen wichtig«, wetterte der Vizevorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Hermann Gröhe. Ähnlich äußerte sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Die Sanktionen seien »zutiefst solidarisch und gerecht«, versuchte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter in der Westfälischen Rundschau »Arbeitsplatzbesitzer« gegen Erwerbslose auszuspielen.
Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hält Nahles’ Vorschlag indes für »eine gute und richtige Idee«. DGB-Chef Reiner Hoffmann verlangte, Sanktionen gegen ohnehin arme Menschen generell abzuschaffen. »Sie drücken Menschen in Notlagen und spielen Arbeitgebern in die Hände, die mit prekärer und schlecht bezahlter Arbeit Gewinne machen«, sagte der Gewerkschaftsfunktionär. Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag, erklärte am Montag: »Statt auf Arbeitszwang, Demütigung und Drohungen zu setzen, sollten Union und SPD für gute Arbeit sorgen.« Dietmar Bartsch, Kovorsitzender der Linksfraktion, nannte Nahles’ Vorschlag »eine späte Erkenntnis«.
Noch voriges Jahr waren aus dem damals von Nahles geführten Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) andere Töne zu hören. Mit Verweis auf das Prinzip »Fördern und Fordern« bügelte dieses zum Beispiel eine Anfrage von junge Welt im bezug auf eine Studie der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags zu den Auswirkungen von Sanktionen vom 7. Februar 2017 ab. Darin hieß es, Sanktionen führten zu »mangelhafter Ernährung bis hin zu zeitweisem Hungerleiden«. Betroffene müssten auf Medikamente verzichten, bekämen häufig Depressionen oder verlören ihre Wohnung. Vor allem junge Menschen zögen sich sozial zurück. Wissenschaftler der Humboldt-Universität Berlin hatten bereits 2015 Zusammenhänge zwischen Zwangsräumungen und Hartz-IV-Sanktionen belegt. Damals blieb die SPD stumm.

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