Hartz IV lässt durch das soziale Raster fallen

Hartz IV lässt Menschen durch das soziale Raster fallen: Ist es Hartz III oder Reich IV?

Die erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen, die wir derzeit auf dem Weg in die propagierte Wissens- und Lerngesellschaft beobachten können, lassen immer häufiger Menschen durch das soziale Raster fallen. Die derzeit schier unermessliche individuelle Freiheit, die wir in den Lebens-, Beziehungs- und Arbeitsmustern verwirklichen dürfen, geht mit einem paradox anmutenden Zwang zur individuellen Gestaltung (und Selbstinszenierung) einher, wobei stabile Identitätsmuster fehlen und die beschützende Sicherheit familiärer Netze auf der Strecke geblieben ist. Wer heutzutage seine Arbeitsstelle verliert, ist auf die Unterstützung des Staates angewiesen und landet (oft trotz guter Ausbildung und Bildung) bei den zuständigen Argen und den heiß diskutierten Hartz IV Leistungen.

Diese Menschen werden in einschlägigen Internetforen als arbeitsscheue, zuweilen dumme Dauerhartzer bezeichnet, die zu Recht aus dem Arbeitsleben aussortiert wurden: Wer will, so heißt es, kann arbeiten, denn die Guten, meint man, werden immer wieder eine Stelle finden können. Wenig Sympathie schlägt diesen Menschen entgegen, ihre individuellen Schicksale bleiben unberücksichtigt, und sie werden mit dem anrüchigen Makel des Scheiterns abgestempelt. Auch ich zählte zu diesen Hartz IV Empfängern,...


[...] hatte verbale Schläge einzustecken und wurde in einem kritischen Forum, das sich mit den Fragen zu Hartz IV auseinandersetzt, von den Kritikern der Sozialleistungen wüst beschimpft, so derb, dass ich erstaunt über den Hass war, der Hartz IV Empfängern zuweilen entgegenschlägt.

Seit dem Tag, als ich selbst Hartz IV Leistungen in Anspruch nehmen musste, begann ich unter der ständigen Existenzbedrohung und der begründeten Furcht, aus dieser Lebensfalle nicht mehr herauszufinden, zu leiden. Es sind schwer nachvollziehbare Ängste, in der die monatlichen Zahlungen weiterhin zu leisten sind, aber im Grunde kein Geld vorhanden ist. Einesteils zählte ich zu den Menschen, die von der Springer-Presse mit massiven Vorurteilen auf der Titelseite in den vergangenen Monaten pauschal abgeurteilt wurden – ich wusste, dass ich ein gesellschaftlicher Versager nach den Kriterien dieser Gesellschaft war und tat auch alles, um aus dem Spinnennetz herauszufinden. Andererseits war ich gut ausgebildet, publizierte in meiner Hartz IV Zeit mehrere Arbeiten und fühlte mich weder minderwertig noch gescheitert. Ich handelte, weil ich unbedingt aus der Hartz IV Abhängigkeit herausfinden wollte, mir weitere existenzvernichtende Probleme mit der Arge in Hamburg ein, die teilweise auch die Zahlungen (u.a. wegen der ehrenamtlichen Tätigkeit an einer jüdischen Schule) einstellte. Mein grundrechtlich verbrieftes Recht auf die freie Ortswahl wurde mir verwehrt und der Umzug (trotz der um 150 Euro günstigeren Miete) verweigert. Erst als der Vermieter bereits Räumungsklage eingereicht hatte, wurden mir die Zahlungen verspätet gezahlt, sodass ich in Existenzpanik nur die Chance sah, die Klage zuzulassen und somit alles verlor. Ich habe mich nicht gewehrt und meine Wohnung wurde vier Tage vor Weihnachten zwangsgeräumt.

Nun kann ich aus Kostengründen nicht einmal die persönlichen Sachen bis 20 Feb. 2011 abholen, da die Arge für die Kosten selbstverständlich nicht aufkommt. Die Möglichkeiten, in dieser Gesellschaft aus einem Absturz herauszufinden, sind gering, wenn nicht unmöglich. Ein Versager hat keinen Platz, so sieht dies auch meine Familie, die wegschaut. Und ich? Das erstaunliche ist, dass mich die Hartz IV Zeit und der ständige Kampf mit der Arge, die Bündel an wöchentlichen Briefen, die allen Betroffenen ins Haus flattern, derart mürbe gemacht hat, dass ich fast erleichtert bin, von der Macht (und dem Missbrauch) der Behördenmitarbeiter nicht mehr abhängig zu sein. Ich bleibe lieber auf der Strecke. Das, wie auch das Wegsehen, das Schweigen meiner Familie gab mir zu denken und schockierte mich. Wir scheinen derzeit einem darwinistischen Menschenbild zu folgen, denn wer es nicht schafft, fliegt raus. Wer dem Leistungsdruck nicht standhält, der taugt nichts. Dabei bleibt unsere soziale Empathie auf der Strecke, weil wir den Blick von den vielen Menschen, die wir den Aktionärskursen und Blockkostenreduzierungen opfern, abwenden, und einen Kasino-Kapitalismus erlauben, in dem wir die Menschen nach ihrer Brauchbarkeit ein- bzw. aussortieren. (B. Gaedecke)

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