Bundesagentur für Arbeit: „Rekord bei Hartz-IV-Sanktionen gegen Arbeitsunwillige“

Wenn man in die Google-Suchfunktion diese Überschrift eingibt finden sich über 2.000 Einträge, die über diesen „Rekord“ berichten. Dass diese Meldung der Bundesagentur für die Bild-Zeitung die „Hartz-IV-Sauerei“ ist und fast die gesamte Seite zwei füllt gehört bei diesem Hetzblatt gegen Arbeitslose inzwischen zur traurigen Normalität, dass aber auch als seriös geltende Zeitungen wie die FAZ oder die immer noch als „links-liberal“ geltende Frankfurter Rundschau solche Schlagzeilen kritiklos übernehmen, ist ein klassisches Beispiel für die freiwillige „Gleichschaltung“ unserer Medienlandschaft. Rund 36 Milliarden hat der Bund 2010 für Hartz IV bereitstellen müssen [PDF - 132 KB], mit 100 Milliarden jährlich so schätzte der ehemalige Bundesfinanzminister Steinbrück werde der deutsche Staat jährlich durch Steuerhinterziehung betrogen. Doch die Legalisierung des Steuerbetrugs durch das Abkommen mit der Schweiz wird natürlich durch die Rekordmeldungen über Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger an den Rand gedrängt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Unser Leser G.K. hat die Berichterstattung und die Kritik gesammelt. Wolfgang Lieb

Skandalmeldungen über die steigende Zahl von angeblichen Hartz IV-„Betrügern“ erscheinen in
schöner Regelmäßigkeit. Auch diesmal wird der Eindruck erweckt, dass jeder Fünfte der rund 5 Millionen von Hartz IV Betroffenen sanktioniert werden müsse, weil sie die gesetzlichen Auflagen nicht erfüllen. Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe hatte für die Jahre 2007 bis 2010 eine Statistik der Sanktionen aufgestellt [PDF - 171 KB]. Das Institut hat für die 800.000 Sanktions-Fälle im Jahre 2010 nachgewiesen, dass es sich dabei um eine Bewegungsstatistik, nämlich um wie viele neue Fälle unabhängig von der Mehrfachzählung oder der Bestandskraft einer Sanktion es sich handelt und keineswegs um eine Quote geht. Die Sanktionsquote hatte sich bei den letzten „Rekord“-Meldungen von 2,5 auf 2,8 Prozent erhöht. Selbst Ministerin von der Leyen hat im letzten Jahr die Hartz IV-Empfänger in Schutz genommen: “96 Prozent verhalten sich korrekt“.
Man kann vielleicht von unseren Journalisten nicht verlangen, dass sie Statistiken lesen und interpretieren können, aber wenigstens sollten sie sich erinnern, was vor einem Jahr in ihren eigenen Zeitungen über die Klarstellung zu den „Rekordwerten“ zu lesen war.

Aber wenn dem Journalismus die Sach- und Fachkenntnis fehlt und wenn noch Gedächtnisverlust dazu kommt, dann verkommt die Profession zu reinem Verlautbarungs-Journalismus. Das heißt man nimmt jede Presseerklärung einer Institution – wie hier der Bundesagentur für Arbeit – auf und erklärt sie zur Tatsachenmeldung mit Schlagzeilenwert. Und weil ja die Diskriminierung von Hartz IV-Empfängern inzwischen zum Allgemeingut geworden ist, kann man sich auch an deren Herabsetzung und Erniedrigung gefahrlos weiter beteiligen.
Es ist nur eines der Beispiele dafür, wie die Empathie für die sozial Benachteiligten in unserer Gesellschaft immer mehr verloren geht.
Es folgen die Hinweise und die Anmerkungen unseres Lesers G.K.:
„Rekord bei Hartz-IV-Sanktionen gegen Arbeitsunwillige”
Langzeitarbeitslose, die Hartz IV beziehen, müssen sich um einen neuen Job bemühen. Wer arbeitsunwillig ist oder Einkommen verschweigt, bekommt Leistungen gestrichen. Im vergangenen Jahr traf das fast eine Million Menschen, so die Bild-Zeitung. Ein Rekord. (…)

Die meisten Strafen (582.253) seien verhängt worden, weil die Hartz-Empfänger Meldefristen nicht eingehalten hätten, also zum Beispiel trotz Einladung nicht beim Jobcenter erschienen, berichtet die Bild-Zeitung. In 147.435 Fällen gab es Strafen, weil die Arbeitslosen gegen Pflichten der Eingliederungsvereinbarung verstießen. 138.312-mal wurden Strafen verhängt, weil die Betroffenen die Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Weiterbildungsmaßnahme verweigerten.“

Die von der FR gewählte Artikelüberschrift entspricht dem Niveau von propagandistisch aufgemachten Artikeln der Bildzeitung. Denn selbst die in dem FR-Beitrag genannten Daten der Bundesagentur für Arbeit weisen für den Sachverhalt “Verweigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Weiterbildungsmaßnahme” (also für die angeblich „Arbeitsunwilligen“) einen prozentualen Anteil an der Gesamtzahl der verhängten Sanktionen (912.377 Fälle) von lediglich 15,2% aus.
Die von Lesern der Frankfurter Rundschau geschriebenen Kommentare zu diesem FR-Beitrag sprechen deshalb auch teilweise eine deutliche Sprache:
“Kein Wort darüber, dass etwa 70 % der Sanktionen unrechtmäßig waren.

Kein Wort darüber, dass sich Sanktionen durch Verhärtung der Fronten bei den meisten Bestraften anhäufen. Liest man den Bericht aus Nürnberg, so sind die betroffenen Personen im Bereich 150.000 anzusiedeln. Alles andere sind demzufolge Mehrfachbestrafungen, was mitunter damit zusammenhängt, dass sich Verfahren über Jahre hinziehen und wer am längeren Hebel sitzt…”
“Springer-Hetze in der FR, na großartig. Der erwiesene “Missbrauch” …

summiert sich auf etwa 3% (!) aller Anträge. Noch vor einiger Zeit erschien in der SZ ein Artikel, der die extrem niedrige Missbrauchsquote zum Thema hatte. Man kann natürlich auch reißerische Einzelfälle herauspräparieren und mit absoluten Zahlen Stimmung machen. Klar.

Sanktioniert wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dafür muss niemand Termine “verpennen”. Die Wortwahl in diesem Artikel ist einfach nur auf Springer-Hetzniveau.”
“Und wieder ein weiterer journalistischer Tiefpunkt der FR, den Bericht von Europas größter Dreckschleuder, der Bild-Zeitung, völlig ohne Kommentar zu übernehmen. Hartz4, benannt nach einem verurteilten Straftäter, ist ein Verbrechen. Bemerkt wird das erst, wenn man selbst betroffen ist oder wird. Und das geht in Deutschland recht schnell.

Scheidung, Krankheit, ein Konkurs, Arbeitslosigkeit usw. Hartz4 muss Angst erzeugen, denn nur so kann es gelingen, Millionen in billige Zeitarbeit, prekäre Beschäftigung, Dumping-Löhne zu pressen und somit Europas …größten Niedriglohnsektor zu installieren.”
Man muss allerdings der FR zugutehalten, dass von der Redaktion im Nachgang zu obigem Beitrag folgender Kommentar veröffentlicht wurde:

Seltsam: Die Zahl der Arbeitslosen sinkt – gleichzeitig sind im vorigen Jahr so viele Hartz-IV-Empfänger wie noch nie mit Sanktionen bestraft worden. (…) Die allermeisten Arbeitslosen gehen zum Jobcenter und beantragen staatliche Hilfe, weil sie dies tun müssen. Es ist nämlich nicht schön, Hartz-IV-Empfänger zu sein: Die Leute müssen sich ständig melden, Bewerbungstrainings absolvieren – und praktisch jeden Job annehmen, der ihnen angeboten wird. Wer nicht brav das tut, was von ihm verlangt wird, wird bestraft. Wer einmal nicht zum vereinbarten Termin kommt, kriegt zehn Prozent weniger Geld. Wer eine schlecht bezahlte Leiharbeiter-Stelle nicht annimmt, muss noch stärkere Kürzungen hinnehmen.

Besonders oft und besonders hart werden junge Arbeitslose bis 24 Jahre bestraft. Mehr als elf Prozent dieser Menschen wurden im vorigen Jahr sanktioniert, bei den älteren waren es „nur“ 4,5 Prozent. Die Strafen für die jungen Menschen sind schärfer als für älter Arbeitslose – so schreiben es die Hartz-Gesetze vor. Ein Beispiel: Weigert sich ein 24-Jähriger, einen Ein-Euro-Job anzunehmen, wird ihm die Regelleistung komplett gestrichen. Er kann dann Lebensmittelgutscheine beantragen, die muss die Behörde aber nicht genehmigen. Bei einer weiteren „Pflichtverletzung“ werden auch die Wohnkosten nicht mehr übernommen.

Diese Strafen sind viel zu hart. Sie drängen junge Menschen, irgendeinen Job anzunehmen, zum Beispiel als Leiharbeiter. Und nach ein paar Monaten ist die befristete Stelle zu Ende und die Leute müssen wieder zum Jobcenter gehen. Vermittler berichten noch etwas anderes: Es gibt auch Jugendliche, die wieder klauen oder schnorren gehen, nachdem sie die volle Härte der Hartz-Gesetze zu spüren bekommen haben. Ein toller Erfolg! (…) Harte Strafen mögen manchem Stammtisch-Bruder gefallen. Eine Lösung der Arbeitsmarktprobleme sind sie nicht.
Keine Schlagzeilen machte hingegen diese Meldung:

Noch nie wurden so wenig Hartz IV Zahlungen an Bedarfsgemeinschaften entrichtet und derart viele Sanktionen ausgesprochen. (…) Im Dezember 2011 registrierte die BA rund 3,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Im Schnitt wurde pro leistungsberechtigtem Haushalt durchschnittlich 807,29 Euro pro Monat gezahlt. Laut Statistik wurden noch nie so wenig Zahlungen an Bedarfsgemeinschaften entrichtet seit Einführung von Hartz IV. Im Vorjahreszeitraum (Dezember 2010) lag die Summe trotz niedrigeren Regelleistungen noch bei 839,69 Euro und im Jahre 2006 sogar bei 870,26 Euro je Bedarfsgemeinschaft.

In den letzten Jahren ist die Sanktionsquote immer weiter angestiegen. Das liegt nicht etwa daran, dass mehr „Vergehen“ begangen wurden, sondern weil die BA die Jobcenter-Mitarbeiter dazu anhält, „konsequent durchzugreifen“, auch wenn nur Bagatell-Vergehen vorliegen. Es existieren zudem interne Berichte, nachdem sogenannte Sanktionsquoten den Sachbearbeitern vorgeben werden. Jeder Jobcenter-Mitarbeiter ist dazu angehalten, bestimmte Quoten umzusetzen. Diese Quotenvorgaben werden zwar nicht öffentlich kommuniziert, werden aber von leitenden Behördenmitarbeitern bestätigt. So wird im Zweifelsfall immer gegen den Betroffenen entschieden. Schließlich können so auch Ausgaben auf Kosten der Leidtragenden gespart werden, wie die gesunkenen Zahlungen an Bedarfsgemeinschaften zeigen.

Indirekt gibt das auch ein Sprecher der BA zu. Denn er weist Medienberichte in diesem Zusammenhang zurück, die von “mehr Betrugsfällen” plakativ berichten. „Die reinen Missbrauchsfälle und Betrugsfälle steigen nicht an. Wir haben überwiegend Meldeversäumnisse, das hängt auch mit der guten konjunkturellen Entwicklung zusammen“, sagte der Sprecher. Denn die reinen Missbrauchsfälle, also in jenen Fällen, wenn Antragsteller trotz einer nicht gemeldeten Jobtätigkeit Hartz IV-Leistungen bezieht, sind deutlich zurück gegangen. Die BA leitete im vergangenen Jahr rund 177.500 Straf- und Bußgeldverfahren aufgrund von Betrug beim Arbeitslosengeld II ein. Das sind knapp 22 Prozent weniger als im Jahr zuvor.
Siehe auch:
Hartz IV-Missbrauch sinkt: Paritätischer Wohlfahrtsverband wirft BILD-Zeitung unverantwortliche Stimmungsmache vor

Als unverantwortliche Stimmungsmache kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband die aktuelle Berichterstattung der BILD-Zeitung über vermeintlich zunehmende „Trickserein“ durch Hartz IV-Bezieher. Faktisch seien Missbrauch und Arbeitsverweigerung sogar deutlich zurückgegangen, so der Verband.

„Hier wird ohne jede empirische Grundlage auf unverantwortliche Art und Weise gegen Millionen Menschen gehetzt und ein Bild der schmarotzenden Massen geschürt, das mit der Realität nichts zu tun hat“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen. Tatsächlich habe es nur einen ganz leichten Anstieg der Sanktionsquote in Hartz IV von 3,1 auf 3,4 Prozent gegeben, der jedoch nichts mit Missbrauch oder Trickserei zu tun habe, sondern überwiegend auf Meldeversäumnisse zurückzuführen sei, wie die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit belegen. „Hier geht es nicht um mutwilligen Missbrauch, sondern ganz alltägliche Versäumnisse wie beispielsweise das Vergessen eines Termins“, so Schneider.

Der Anteil der Arbeitsverweigerung ist nach Berechnungen des Paritätischen seit 2007 sogar um 30 Prozent gesunken und hat damit ein Rekordtief erreicht. Lediglich rund 0,5 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsbezieher wurden auf Grund von Arbeitsverweigerung sanktioniert. „Die Zahlen belegen die große Disziplin und Leistungsbereitschaft der Menschen in Hartz IV. Die ganz breite Mehrheit tut alles, um aus ihrer Situation heraus und wieder in Arbeit zu kommen“, so Schneider.

Quelle: Paritätischer Wohlfahrtsverband

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