Länger leben, trotz Hartz IV Teil II


Länger leben, trotz Hartz IV

Teil II: Länger leben, trotz Hartz IV "Viva la Revolución!"
von Joachim Weiss
Der zweite Teil von Länger leben, trotz Hartz IV. Allmählich griff die nächtliche Unruhe auf die Nachbarshäuser über. Lichter gingen an, Fenster öffneten sich – neugierige Blicke in meine Richtung: “Wird er jetzt endlich die Haustür öffnen?” Es wäre die einzig vernünftige Lösung gewesen, doch ein explosives Gemisch aus Angst und Wut vernebelte mir den Verstand. Die Situation geriet immer mehr außer Kontrolle. Voller Panik, dass die Polizei in den nächsten Minuten gewaltsam ins Haus eindringen würde, band ich mir eine LED-Stirnlampe um und kehrte ins Erdgeschoss zurück. Da man uns schon vor Wochen das Gas und den Strom abgestellt hat, war es im Haus kalt und stockfinster. Im Abstellraum befand sich ein schwerer Dachbalken; ich zog ihn in die Diele und verbarrikadierte damit die Haustür. Für Sekunden zog ich einen Fluchtversuch über den Garten in Erwägung. Und überhaupt: Warum ließ ich mich auf das Streitgespräch mit den beiden Beamten ein? Ich hätte das Haus schon längst über den Garten verlassen und nach ein paar Stunden wieder zurückkehren können. Dafür war es jetzt zu spät.

Wie ein Tier in die Enge getrieben
In diesen Minuten fühlte ich mich wie ein verletztes Tier, das langsam...
in die Enge getrieben wird. Ebenerdig waren alle Fluchtwege blockiert. Darum hastete ich ins Dachgeschoss und nahm ein dort herumliegendes Küchenmesser an mich. Sollte die Polizei einen Zugriffsversuch unternehmen, wollte ich sie mit der Drohung, mir selbst Verletzungen zuzufügen, in Schach halten. Ich öffnete das Mansardenfenster und schaute auf die Straße, wo ‘Thomas’ und ein halbes Dutzend weiterer Leute herumstanden. Dazwischen, meine Lebensgefährtin, die einen Anorak unbekannter Herkunft trug und mit zorniger Mine umherblickte. »Komm ins Haus, damit wir reden können,« rufe ich ihr auf spanisch zu. Als Antwort ernte ich einen weiteren Schwall dominikanischer Beschimpfungen. Doch es waren nicht ihre Worte, die mir in diesen Minute den letzten Funken Verstand geraubt haben. Es war ihr schamloser Verrat an allen Idealen und Werten, die uns dereinst zusammengeführt haben.

2003 mussten wir unter abenteuerlichen Umständen in Santo Domingo heiraten, weil das deutsche Ausländerrecht eine Eheschließung im Inland verhinderte. Ich kenne die Dominikanische Republik. Ich kenne die Armut der Menschen. Ich kenne den Anblick verwahrloster Waisenkinder in der ‘Zona Colonial’, die bei Sonnenaufgang aus modernden Pappkartons kriechen; zwischen Ratten und streunenden Hunden verbringen sie dort die Nacht. Andere lassen sich als ‘lebende Wachhunde’ in Geschäfte einschließen und werden von Einbrechern erschlagen. Ich verfüge aber auch über hinreichende Kenntnisse der lateinamerikanischen Geschichte, um mir dieses Bild des Jammers zu erklären. Stundenlang habe ich mit meiner Frau über Sklaverei und diktatorische Herrschaft diskutiert, über Armut, Haiti und Kuba. Sie war erstaunt, dass Adolf Hitler noch ein größeres Schwein war, als Raphael Trujillo, unter dessen Regime ihr Vater noch seinen Dienst als Dorfgendarm versah.

Rasendes Spektakel auf dem Dach
Augenblicke später wurde das Hausdach zum Schauplatz eines rasenden Spektakels: Ein Mann kletterte aus dem Mansardenfenster auf das Dach. Er faselte wirres Zeug und fing an sich zu entkleiden. Nur noch mit Boxershorts und einem dominikanischen Touristenhemd bekleidet, fuchtelte er mit einem Küchenmesser unter dem Sternenhimmel herum, und beschimpfte Gott und die Welt. Die symbolische Bedeutung dieser Performance hat wahrscheinlich keiner der Anwesenden verstanden, am allerwenigsten meine Frau. Doch die Botschaft ist so klar wie Klosterbrühe: “Da, schau her, du rabenschwarze Seele! Wer steht jetzt da, im Kampf gegen Unterdrückung und Tyrannei? Du hast unsere Ideale verraten! Du bist mit wehenden Fahnen ins feindliche Lager übergelaufen! Du bist…” Aber gut, das ist ein anderes Thema…

Unter ‘Thomas’ und seinen Mitstreitern breitete sich Ratlosigkeit aus. Verstört funzelten sie mit ihren Taschenlampen und Handscheinwerfern herum und blendeten mich dabei mehrmals so stark, dass ich um ein Haar vom Dach gerutscht wäre. Erst in diesem Moment habe ich wirklich begriffen, dass ich mich leichtfertig in akute Lebensgefahr begeben hatte. Die polizeilichen Einsatzkräfte wussten jedenfalls nicht was sie tun (sollten) und es lag allein an mir, die Deeskalation einzuleiten. Ich sagte zu ‘Thomas’, dass es so nicht geht und ich ihm wohl oder über vertrauen müsste. Er sollte seine Leute abziehen, und vor allem die Taschenlampen und Scheinwerfer ausschalten, damit ich wieder ins Haus klettern kann; dort könnten wir in Ruhe über alles reden. ‘Thomas’ stimmte dem Vorschlag zu.

Vertrauenskonto gesperrt!
So kehrte ich unversehrt ins Haus zurück. Ich öffnete das Küchenfenster und warf das Messer nach draußen, entfernte den Dachbalken und öffnete die verdammte Haustür. Das von ‘Thomas’ in Aussicht gestellte “Gespräch” verlief etwa folgendermaßen: Sobald sich die Tür öffnete, fielen ‘Thomas’ und drei oder vier weiteren Beamten über mich her. Sie überwältigten mich, legten mir Handschellen an und schleppten mich wie einen Schwerverbrecher in ein bereitstehendes Einsatzfahrzeug. Was habe ich nur verbrochen?

Auf der Fahrt zum Polizeirevier sitzt ‘Thomas’ neben mir und grinst. Ich entschuldige mich dafür, dass ich ihn geduzt habe; »Kein Problem,«, sagt er “ich heiße auch gar nicht Thomas.« Das wunderte mich nicht, denke ich, und antwortete, »Ihr Vertrauenskonto ist ab sofort gesperrt”… Teil III erscheint in den nächsten Tagen… (26.5.2010/jowi)

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