Altersarmut in Deutschland größer als Kinderarmut?

OECD (DIW): Altersarmut in der Bundesrepublik Deutschland größer als Kinderarmut? Mit der Halbierung der Kinderarmut ist die Altersstruktur der Armutsraten auf den Kopf gestellt!

Am 30 April 2011 veröffentlichte das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) die Mitteilung „OECD halbiert Kinderarmut ...“. In diesem Artikel wurde die Erwartung formuliert, dass die OECD ... alle Daten und Hintergründe offen legt, die zu dieser sensationellen „Halbierung der Kinderarmutsrate“ in der Bundesrepublik Deutschland geführt haben. Nachdem zunächst „nur“ auf diversen Websites auf diese „Sensation“ hingewiesen wurde, berichtete die Financial Times Deutschland (Online) am 6. Mai 2011 (04:00 Uhr) unter der Überschrift: „Fehlerhafte Statistik – Kinderarmut nur halb so hoch wie gedacht“. Es folgten an diesem 6. Mai 2011 diverse weitere Online-Artikel in denen die Pressemitteilung des DIW Berlin vom selben Tag verarbeitet wurde unter der Überschrift „Unsere Zahlen wurden durch die neuen Methoden besser“ wird versucht, zu erklären, wie es zu dieser scheinbar sensationellen Halbierung der Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland – von 16,3 Prozent im Berichtsjahr 2005 auf 8,3 Prozent im Berichtjahr 2008 – kam.

Das DIW habe „seine Erhebungsmethoden für die Einkommensstatistik verändert, sie der sinkenden Antwortbereitschaft der Bevölkerung angepasst und die Zahlen massiv verbessert.“ Der Vorstandsvorsitzende des DIW: „Unsere Zahlen wurden durch die neuen Methoden genauer und gehören damit zu den besten, die zur Verfügung stehen“. Und der Leiter des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP/DIW) fügt hinzu: „Am substantiellen Ergebnis unseres Armutsberichtes hat sich durch die neuen Methoden nichts geändert: Kinder und Jugendliche sind die in Deutschland am stärksten von Armut betroffene Bevölkerungsgruppe.“ Dies verwundert einmal mehr. Denn in der selben OECD-Excel Tabelle, der man die neue Kinderarmutsrate von 8,3 Prozent in der Bundesrepublik Deutschland entnehmen kann6, werden von der OECD (auch auf Basis von DIW-Daten?) noch zwei weitere Armutsraten genannt:

1. Die durchschnittliche Armutsrate in der Bundesrepublik Deutschland: 8,9 Prozent.
2. Die Armutsrate unter den Älteren (Ruhestand) in der Bundesrepublik Deutschland: 10,3 Prozent

In der selben OECD-Excel-Tabelle wird der Zusammenhang der Armutsraten der Kinder und der Älteren („Pensioners“) zudem noch in einer Abbildung unter der Überschrift „Poorer pensioners or poorer children?“ dargestellt.

Die Sensation, womöglich noch größer als
die „Halbierung der Kinderarmut“: Die Bundesrepublik Deutschland gehört jetzt zu den OECD-Mitgliedsstaaten, in denen die Frage „Poorer pensioners or poorer children?“ mit „Poorer pensioners“ beantwortet wird. Die in der Öffentlichkeit bisher wahrgenommene Altersstruktur der Armut (Armutsraten) wurde durch die “verbesserte Methodik“, die „innovative Methode der Fehlerbereinigung“ geradezu auf den Kopf gestellt. Bisher galt für die Bundesrepublik Deutschland, weitestgehend unbestritten, die Kinderarmut sei weitaus größer als die der älteren Generation. Dies gilt also, nimmt man die von der OECD für die Bundesrepublik Deutschland präsentierten Daten ernst, für das Berichtsjahr 2008 mit einer Armutsrate von 10,3 Prozent unter den Älteren (im Ruhestand) nicht mehr.

Zur Erinnerung: Zu Beginn des Berichtsjahres (19. Januar 2008), die „innovativen“ Neuberechnungen waren damals natürlich noch nicht bekannt, hatte die Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik der OECD, Monika Queisser, der Frankfurter Rundschau ein viel beachtetes Interview gegeben. Darin heißt es u.a.: „Heute ist die Armutsquote der Rentner mit rund zwei Prozent in Deutschland weitaus niedriger als in den meisten anderen Ländern. Das wird aber nicht so bleiben, und darüber macht sich die OECD Sorgen.“9 Und in den Medienberichten, die diesem Interview folgten, wird die mögliche Entwicklung dieser Armutsquote der Rentnerinnen und Rentner in den Jahren bis 2020/30 skizziert. Zum Beispiel in „Der Westen“ (Online): „Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, sagte, in Deutschland werde es bis 2020 oder 2030 eine Altersarmut von 10 Prozent oder mehr geben. Derzeit liege der Anteil der Menschen, die im Rentenalter von Grundsicherung lebten müssen, bei 2,5 Prozent.“

Jetzt, nach der „innovativen“ Neuberechung zeigt sich oder scheint sich zu zeigen: Im Jahr als Frau Queisser das zitierte Interview gab (2008), soll die Armutsquote der Rentnerinnen und Rentner nicht „rund zwei Prozent“ betragen haben, sondern 10,3 Prozent. Und: die vom Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes „bis 2020 oder 2030“ erwartete „Altersarmut von 10 Prozent“ war nach den von der OECD jetzt veröffentlichten Daten schon 2008 erreicht.

Die in der BIAJ-Kurzmitteilung formulierte Erwartung einer Offenlegung aller Daten und Hintergründe, die zur sensationellen „Halbierung der Kinderarmutsrate“ in der Bundesrepublik Deutschland geführt haben, muss aus Sicht des Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) vor dem hier dargestellten Hintergrund erweitert werden. Die von der OECD verbreiteten (DIW-)Daten zur Armut in der Bundesrepublik Deutschland sollten bis zur Klärung der Ursachen für das „Auf den Kopf stellen der Alterstruktur der Armut“ mit einem entsprechenden Hinweis versehen werden oder, besser noch, bis zur Klärung mit einem Sperrvermerk versehen werden. (pm)

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