Europa : Wirtschaftskrise treibt Tausende in den Freitod - Nachrichten Politik - Ausland - DIE WELT

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Arbeitslosigkeit und Verschuldung treiben die Selbstmordrate in der EU nach oben: Seit 2009 haben sich pro Jahr fast 8000 Menschen mehr umgebracht als es vor der Krise im Durchschnitt der Fall war. Von Stefanie Bolzen, London
Francisco Lema hatte gerade seine achtjährige Tochter zur Schule gebracht, als er Anfang Februar 2013 im Briefkasten Post vom Finanzamt fand. 400 Euro Kommunalsteuer sollte der 36-Jährige der Stadt Córdoba nachzahlen. Francisco stieg in seine Mietwohnung im vierten Stock, ging auf den Balkon und sprang in den Tod.
Ein Jahr zuvor hatte der gelernte Maurer mit seiner Familie aus dem selbst gebauten Eigenheim ausziehen müssen, weil er die Hypothek nicht mehr bedienen konnte und keinen neuen Job fand. Die Bank nahm Franciscos Wohnung zurück, trotzdem musste er noch 25.000 Euro abzahlen. Er litt unter immer stärkeren Depressionen, "ich will nicht mehr kämpfen und kämpfen, wenn am Ende alles verloren geht", sagte er. Die Forderung von 400 Euro, ein im Vergleich kleiner Betrag, konnte er nicht mehr ertragen.
Die Krise in Europa treibt manche Menschen in solche Verzweiflung, dass sie keinen Ausweg mehr sehen. Fast 8000 Frauen und Männer mehr als im Durchschnitt haben seit 2009 pro Jahr ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt, ein Anstieg von 6,5 Prozent. "Die wissenschaftliche Beweislage ist gut, dass die Rezession zur steigenden Zahl von Suiziden führt", sagt Aaron Reeves von der Universität Oxford. Gemeinsam mit der London School of Hygiene hat die Hochschule jetzt Daten vorgestellt, die einen klaren Zusammenhang belegen.

Die meisten Selbstmörder sind Männer mittleren Alters

Auch in Deutschland war die Suizidrate (Link: http://www.welt.de/110346864) nach Angaben des Statistischen Bundesamts seit 2008 – und mithin seit den Jahren der einsetzenden Krise – nach oben gegangen und lag zeitweise über 11.000, womit sich alle 47 Minuten ein Mensch in Deutschland das Leben nahm. 2012 aber ist die Rate wieder auf knapp unter 10.000 Fälle gefallen.
"Die Studie zeigt, was wir seit geraumer Zeit fürchten: dass Arbeitslosigkeit, unsichere Jobs und viele andere Faktoren, die man mit Rezession verbindet, Depression und Selbstmord mit sich bringen", sagte Andy Bell vom Centre for Mental Health. Die meisten Betroffenen, die Suizid begingen, waren den Daten zufolge Männer (Link: http://www.welt.de/115648443) mittleren Alters. Es sei daher wichtig, konstatierte Bell, dass die zuständigen Behörden entsprechende Ressourcen hätten, um gefährdete Personen zu identifizieren.
Vor allem in den von der Krise besonders hart getroffenen EU-Staaten geht die Suizidrate nach oben: In Spanien ist Suizid nach Krebs mittlerweile die zweithäufigste Todesursache. Auch in Griechenland und Irland steigt die Zahl der tragischen Fälle – in Irland etwa nahm sich 2013 zeitweise jede Woche ein Landwirt das Leben, weil wegen des langen Winters und der Rezession nicht mehr genug Futtervorräte zur Verfügung stand und Vieh herdenweise verendete.

Staatliche Programme verhindern Suizid

In Schweden, Finnland und Österreich ging die Rate hingegen trotz der Krise zurück, was die Autoren der Studie auf Weiterbildungsprogramme, staatliche Lohnzuzahlungen, aber auch die Verschreibung von Antidepressiva zurückführen. In Großbritannien etwa stieg die Zahl dieser Rezepte zwischen 2007 und 2010 um 19 Prozent.
Bis zum Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise Ende 2008 war die Suizidrate in der EU kontinuierlich gesunken. Die Erhebung wurde auch in den USA durchgeführt, demzufolge gab es auch dort seit Ausbruch der Rezession mehr Selbstmorde als durchschnittlich in den Vorjahren, insgesamt fast 5000.

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