Hartz IV dient nur als "Drohung des Staates"! Arbeitnehmer sowie Arbeitssuchende sollen erpressbar bleiben!

Hartz IV ist als Tabuthema wieder zu einem Topthema der (Medien-)Öffentlichkeit geworden.
Die Interviewäußerung des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), wonach der Bezug von Arbeitslosengeld II keine Armut bedeutet, sondern „die Antwort unserer Solidargemeinschaft“ darauf sei, die Feststellung von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), dass Hartz IV keine Akzeptanz in der Bevölkerung gefunden habe und am besten durch ein „Solidarisches Grundeinkommen“ ergänzt würde, sowie der Ankündigung des neuen Arbeits- und Sozialministers Hubertus Heil (SPD), mit Lohnkostenzuschüssen mehr Langzeiterwerbslose in Arbeit zu bringen, heizten die Debatte weiter an.

Darüber reden viele Menschen, aber die wenigsten wissen noch, was mit den sogenannten Hartz-Gesetzen im Rahmen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder beabsichtigt war, was von den politisch Verantwortlichen in diesem Zusammenhang versprochen und was letzten Endes bewirkt wurde.

Dies gilt selbst für die SPD, deren Wiesbadener Sonderparteitag sich am Sonntag mit dem Thema befasst. Wie es scheint, hat ein kollektiver Verdrängungsprozess während der vergangenen Jahre dafür gesorgt, dass Hartz IV zum Symbol eines individuellen sozialen Abstiegs, hinsichtlich seiner politischen Intentionen und Implikationen jedoch zum unbekannten Wesen geworden ist.

Mythen und Wirklichkeit

„Hartz IV“ nennt der Volksmund einerseits das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt, mit dem die rot-grüne Koalition eine grundlegende Umstrukturierung des Sozialstaates bewirkte, und andererseits das mit ihm als „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ eingeführte Arbeitslosengeld II.

Aufgrund dieser Doppelbedeutung entwickelte sich Hartz IV zu einem in aller Regel negativ besetzten Synonym für den Bezug und die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Hubertus Heil spricht von Hartz IV als einem „Kampfbegriff“, weshalb sozialdemokratische Spitzenpolitiker das Wort auch kaum mehr in den Mund nehmen, und möchte dafür sorgen, dass dieser durch Schaffung eines anderen Systems aus dem politischen Vokabular der Bundesrepublik verschwindet.

Betrachtet man die Werbeslogans, mit denen SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihre Arbeitsmarktpolitik seinerzeit rechtfertigten, obwohl schon zu Beginn des Gesetzgebungsprozesses klar war, dass sie die meisten ihrer Versprechen brechen würden, verwundert der in Heils Worten erkennbare Sinneswandel.

Gerhard Schröder, der seine Wiederwahl im September 2002 nicht zuletzt der nach ihrem Vorsitzenden Peter Hartz benannten Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ verdankte, popularisierte zum Beispiel die Formel einer „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“. In Wahrheit wurde gar nichts zusammengelegt, sondern mit der Arbeitslosenhilfe zum ersten Mal seit 1945 eine den Lebensstandard von Millionen Erwerbslosen (noch halbwegs) sichernde Lohnersatzleistung schlichtweg abgeschafft, an deren Stelle mit dem Arbeitslosengeld II am 1. Januar 2005 eine höchstens noch das soziokulturelle Existenzminimum sichernde Fürsorgeleistung trat.

„Fördern und Fordern“ – eine demagogische Leerformel

Auf den ersten Blick genauso einleuchtend wie die vermeintliche Zusammenlegung zweier Leistungsarten zu einer war das populäre Doppelmotto „Fördern und Fordern“, mit dem die rot-grüne Bundesregierung ihre „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ konsensfähig machte. Warum soll ein arbeitsloser Diplomingenieur, der staatliche Transferleistungen erhält, denn nicht im Gegenzug einen öffentlichen Park fegen oder in einer Flüchtlingsunterkunft bei der Essensausgabe helfen? Nun, ganz einfach deshalb, weil das nicht seiner Qualifikation entspricht, für ihn möglicherweise entwürdigend ist und häufig dazu führt, dass ein „normaler“, für die entsprechenden Tätigkeiten besser geeigneter Arbeitnehmer seine Stelle verliert.

„Fördern und Fordern“ war ein Versprechen gegenüber den Leistungsbeziehern, das nur in seinem zweiten Teil eingelöst werden sollte. Dass man zwischen beiden Handlungsoptionen gar kein Gleichgewicht herstellen wollte, ergibt sich bereits aus dem Gesetzestext: Während das Fordern des Transferleistungsbeziehers bereits in Kapitel 1 Paragraf 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ausführlich thematisiert wird, ist vom Fördern durch den Staat erst in Kapitel 3 Paragraf 14 SGB II und eher beiläufig die Rede. Der wohlklingende Werbeslogan verdeckt die eigentliche Funktion des Gesetzespaketes: als Drohkulisse, Disziplinierungsinstrument und Druckmittel zu dienen.

Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV, das seither über jedem einzelnen Beschäftigten und seiner Familie schwebt, sollten Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften genötigt werden, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Es ging hauptsächlich darum, den einheimischen Unternehmen möglichst billige, willige und wehrlose Arbeitskräfte bereitzustellen und damit den „Standort D“ noch konkurrenzfähiger auf den Weltmärkten zu machen.

Beschleunigung der Vermittlung und Verkürzung der Arbeitslosigkeit?

Durch die (Teil-)Privatisierung bzw. Effektivierung der Arbeitsvermittlung und Kürzung der Leistungen für Erwerbslose, wie sie das Hartz-Konzept enthielt, hoffte man, die Ausgaben des Staates und die „Lohnnebenkosten“ der Unternehmen senken zu können. In Wirklichkeit waren die Verwaltungskosten der Jobcenter nie höher als heute, und sie übersteigen mittlerweile sogar den Betrag, der für die Wiedereingliederung von Langzeiterwerbslosen ausgegeben wird. Statt neue Stellen zu schaffen, spalteten etliche Firmen bisherige Voll- und Teilzeitarbeitsplätze in mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse auf und belasteten durch wegfallende Beiträge die Sozialversicherungen zusätzlich.

Mittlerweile befinden sich mehr als zwei Drittel aller Erwerbslosen im Hartz-IV-Bezug und bloß noch ein knappes Drittel im Versicherungssystem. Immer mehr Erwerbslose erhalten nie Arbeitslosengeld (I), sondern fallen gleich in Hartz IV. Entgegen den Prognosen der rot-grünen Arbeitsmarktreformer ist die Verweildauer im Arbeitslosengeld-II-Bezug gegenüber der Verweildauer im Arbeitslosenhilfe-Bezug und der Erwerbsfähigen im früheren Sozialhilfe-Bezug angestiegen. Hartz IV taugt keineswegs als Sprungbrett in den regulären Arbeitsmarkt, sondern hat sich als Zwangssystem entpuppt, aus dem die Betroffenen oft nie mehr herausfinden, weil sie einer sozialen Abwärtsspirale unterliegen, stigmatisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Über die Hälfte der Leistungsberechtigten müssen denn auch bereits vier Jahre oder länger unterstützt werden.

SPD muss mit ihrer „Agenda“-Politik brechen

Glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit stehen, mehrere Millionen frühere Stammwähler zurückgewinnen und wieder zu einer linken Volkspartei werden kann die SPD nur, wenn sie mit ihrer „Agenda“-Politik bricht. Halbherzige Flickschusterei und kosmetische Reparaturen am Hartz-IV-System helfen ihr auf Dauer nicht weiter. Nötig ist stattdessen ein Neuanfang, der mit Selbstkritik und sozialpolitischen Kurskorrekturen beginnen muss. Ohne den endgültigen Abschied von Hartz IV wird es die angekündigte Erneuerung der SPD nicht geben.

Von Christoph Butterwege

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